Eine Reise der Menschlichkeit

Vor meiner Abreise auf die Färöer Inseln haben meine Seminarteilnehmerinnen gemunkelt, ob bereits ein Wikinger an der Fähre auf mich wartet.

Solch einer mit breiten Schultern, rotem Haar und dichtem Bart. Sie waren ganz sicher: so einen (oder ganz viele davon) gibt es da auf den Inseln. Sie sagten auch, sie würden zu den nächsten Seminaren auf die Färöer kommen, sollte ich dableiben wollen. Das hat mich berührt, ermutigt und erheitert.

Wenn mein Leben ein Film wäre (einer, bei dem man vorher schon weiß, wie es weitergeht), wäre es sicher auch so gekommen: Sabrina geht von der Fähre, trifft einen Wikingermann und gründet mit ihm ein Seminarzentrum fern ab von allem.

Da mein Leben kein Film ist
(zumindest nicht so ein vorhersehbarer),

bin ich seekrank morgens um 6 Uhr
nach drei Tagen von der Fähre gestiegen
und hätte um ein Haar meine Hand
in der zuschlagenden Taxitüre stecken gehabt –
ich hatte den Sturm vor Ort unterschätzt.

Wenn diese Reise hoch in den Norden einen Titel bekommen sollte, würde er Eine Reise der Menschlichkeit lauten. Denn ich habe noch nie so viele Geschichten von Menschen gehört, noch nie so viel Menschlichkeit erfahren.

Als ich vor dem Losfahren in Engen am Bahnhof stand – meine Reise würde mich 16 Stunden bis hoch nach Dänemark und am Tag darauf zur Fähre bringen –, war mein einziger Gedanke: Was mache ich hier eigentlich? Auf der Fahrt von Engen nach Stuttgart war ich einfach nur traurig und müde. Als ich meinen Platz im IC von Stuttgart nach Hamburg einnahm und meiner Sitznachbarin Hallo sagte, dachte ich: Das könnte spannend werden!

Und das wurde es. Angefangen von diesem Sitzplatz in Stuttgart bis zum Rückweg ab Kopenhagen über Flensburg und Köln, habe ich überall nur Menschen getroffen. Das ist eine wesentliche – wenn vielleicht auch total unspektakuläre und vielleicht doch die wichtigste – Feststellung dieser Reise: Überall sind nur Menschen.

Menschen, von denen wir,
wenn wir sie auf der Straße treffen,
vielleicht denken: Die haben es geschafft,
bei denen läuft immer alles rund
.
Doch dem ist nicht so.

Ich habe von genau jenen Menschen viele Geschichten gehört. Besonders viele Trennungsgeschichten – Geschichten von Verrat und Betrug, von geplatzten Träumen und Familienplänen, von Todesfällen, Schmerz, Traurigkeit, Wut und Verzweiflung. Ich habe Geschichten gehört von Menschen, die an Abgründen standen – so wie eine jede und ein jeder von uns, immer wieder. Geschichten von Menschen, die nicht wussten, wie sie es schaffen, wie sie den nächsten Schritt setzen sollten, was sie weitertragen würde.

Und ich habe auch von dem gehört, was sie hat weitergehen lassen, habe ihren Mut gespürt, eine Kraft, die sie am Leben gehalten, sie hat weitergehen lassen, ohne dass sie manchmal im Rückblick sagen konnten, wie das eigentlich gegangen ist. Ich habe von helfenden Händen, Menschen, die genau zur rechten Zeit auftauchten und von tragenden Freunden und Familie gehört. Ich habe mit eben jenen Menschen gelacht, geschwiegen, geweint und mitgefühlt. In unserem Schmerz wie in unserer Liebe haben wir unser Verbundensein als Menschen erkannt.

Dass ist etwas, was ich auf den Färöern besonders eindrücklich erlebt habe: Wenn 50.000 Menschen zusammen mit 80.000 Schafen auf 18 Inseln mitten im Atlantik sitzen, wissen sie, dass sie aufeinander angewiesen sind. Weil jede andere Insel unendlich weit weg ist. Weil sie nur einander haben, hier und jetzt. Auf den Färöern hat sich daraus ein starkes Miteinander ergeben, wie ich es hier in Deutschland von Lebensgemeinschaften und intakten Dörfern kenne.

Mir kam das Bild von uns Menschen auf der Erde,
und dass das eigentlich nicht anders ist:
Dass wir auch in Europa letztendlich (salopp gesagt)
auf einer riesigen Insel im Meer sitzen.
Dass wir letztendlich als Menschen
auf einem Planeten mitten im All sitzen.
Gemeinsam mit denen, die jetzt mit uns hier sind.

Auf den Färöern bin ich zum ersten Mal getrampt (und habe erfahren, wie gerne Menschen einen im Auto mitnehmen können). Ich habe mit einem 70-Jährigen, der jeden Tag vor dem Parlament die färöische Nationalflagge hisst, und den ich zufällig am Meer getroffen habe, am Abend die Flagge zusammengefaltet – und mir von ihm anschließend die Hauptstadt bei Nacht von oben zeigen lassen.

Ich habe mit drei Schwedinnen, die auf einer Brustkrebskonferenz waren und von denen ich dachte, sie seien allesamt Ärztinnen, bis sich rausstellte, dass sie alle Betroffene waren, drei Stunden im einzig beheizten, offenen Raum auf einer kleinen Insel auf die Fähre zurück in die Hauptstadt gewartet und Lebensgeschichten wie Bilder geteilt, da draußen ein Sturm jeden Schritt verunmöglichte und jedes Café geschlossen war.

Ich war im Kino und habe mit zwei anderen Menschen zusammen einen englischen Film mit dänischem Untertitel geschaut, der zufällig von einer Frau mit langjährigem Kinderwunsch und Beziehung mit Alltagsproblemen handelte und davon, wie ihr Mann Interesse an einer Kollegin fand und daraufhin die Beziehung mit ihr beendete – der Film endete damit, dass die Hauptdarstellerin sich dadurch auf den Weg zurück zu sich, zu ihren Lebensträumen und in ihre Kraft begab.

Neben ständig wechselndem Wetter – Sonne, Sturm und Regen binnen weniger Minuten – habe ich noch nie so viele Regenbögen hintereinander gesehen und nicht geahnt, dass es tatsächlich Sturm gibt, der einem Fuß und Beine vom Boden abhebt.

In Tórshavn, der Hauptstadt der Färöer,
habe ich bei einem Treff für alte und neue Färöer
einen Mini-Färöisch-Sprachkurs besucht (Eg eiti Sabrina),
habe auf einer kleinen Insel auf einem Pfad,
der im Nirgendwo endete, zwischen Hügeln und Meer
mit Schafen, die links und rechts von mir liefen,
finnische Joiks gesungen.
Ich habe gelernt, was es heißt, „mit den Wellen zu gehen“,
wenn die Option, von Bord zu gehen, nicht besteht.

Ich habe neue Freundinnen und Freunde gefunden. Menschen, die von Zugmitreisenden und Fährgefährtinnen zu Freundinnen und Freunden wurden. Menschen, die mit mir ihre Geschichten geteilt haben, die echten, nicht die geschönten. Ich habe so viel Neues erfahren und gesehen, wie schon lange nicht mehr. Meine Liebe am Reisen wiederentdeckt und zu den Geschichten der Menschen vertieft. Mich von diesem Licht dort oben immer wieder aufs Neue faszinieren lassen.

Ich habe neue Perspektiven und Blickwinkel gewonnen. Ich habe erfahren, dass ich noch stehen kann (was ich ja hatte überprüfen wollen).

Heute kann ich sagen: Diese Reise war mit das Beste,
Grandioseste, Verrückteste und Ungeplanteste,
was ich jemals getan habe.
Ohne einen Reiseführer gelesen zu haben,
ohne zu wissen, was es dort zu sehen gibt
oder was mich erwartet, wusste ich nur: Ich muss dahin.
Und staune rückblickend, wie sich alles gefügt hat.
Wie die Menschen einander nahtlos die Hand zu geben
schienen, wie die Geschichten zusammen
ein großes Ganzes ergeben.

In meiner eigenen Geschichte, in dem, was in den vergangenen Monaten passiert ist, fehlen mir noch Puzzleteile. Dinge, die ich nicht zusammenbekomme, Fragen, die noch offen sind, Geschehnisse, die noch keinen (und vielleicht nie) Sinn ergeben. Die Fragen mitzunehmen, im Nichtwissen stehen zu bleiben und mir zu erlauben, mich immer wieder von der (oft recht drängenden) Suche nach Antworten zu lösen, darin übe ich mich. Die Geschichten auf der Reise und mein eigenes Gehen machen mir Mut, zugleich den nächsten Schritt zu setzen.

Kürzlich sagte eine Frau zu mir: „Leider gibt es keine Abkürzung aus dem Ganzen“. Erst sagte ich „Ja, leider“ – doch dann merkte ich, dass das nicht stimmt. Natürlich, in vielen Momenten – wenn ich mitten in den Fragen, in den aufgewühlten Gefühlen und Unsicherheiten stehe – wünsche ich mir, einfach aus dem Ganzen rauszukommen. Doch eigentlich bin ich viel zu neugierig. Ich bin neugierig, wo mich diese Reise hinführt, die mir so viel entrissen und so viel Neues in die Hände gelegt hat. Ich will wissen, wo ich am Ende rauskomme und wie es dann wieder weitergeht. Ich möchte wissen, was trägt, wenn nichts mehr trägt und es immer wieder neu erfahren. Ich möchte weitergehen, um zu wissen und zu erfahren.

Danke möchte ich auch sagen.
Für all die Rückmeldungen hier im Blog und per E-Mail.
Für die Briefe und Karten per Post.
Für das Teilen all der persönlichen Geschichten.

Danke zugleich für das Verständnis, wenn ich nicht jede Nachricht persönlich beantworte – gelesen habe ich sie alle und sie bestärken mich weiterhin darin, für und in diesem Verbundensein als Menschen miteinander und jede(r) für sich weiterzugehen.

Den Laptop zum Schreiben habe ich übrigens zuhause gelassen. Mein Koffer ließ sich erst packen, als ich den Laptop aus und dafür ein großes, bequemes Kissen eingepackt habe. So war ich drei Wochen nur lauschend unterwegs. Ich habe ein Buch vollgeschrieben, eines, mit den Essenzen meiner Reise. Und ich werde den Faden des neuen Buches über Schwellenzeiten wieder aufnehmen. Und mich melden, wenn es soweit ist, dass es in die Welt gehen kann.

Von Herzen für heute zu dir,
Sabrina (hier auf dem Bild in unserer Fährkabine)

25 Kommentare

  1. Liebe Sabrina,
    seit Tagen will ich schreiben,… jetzt tue ich es mit ganzem Herzen, um dir zu sagen, wie sehr ich mich freue, was du für dich unterwegs alles neu gefunden hast! Die Fotos atemberaubend schön dabei,… ich denke, das war der beste Weg für dich, um Abstand zu finden und mit neuem Gepäck zurückzukommen!
    Liebste Grüße mit einem Lächeln im Herzen für dich,
    Anne

    • Liebe Anne,

      ja, auch für mich war es zu diesem Zeitpunkt das Beste und Stimmigste – vorher wie rückblickend -, was ich habe tun können. Ich bin gespannt, was daraus weiter erwachsen wird.

      Herzlich mit Dank zu dir für dein Dasein,
      Sabrina

  2. Liebe Sabrina,
    ja, jede Reise führt dich auch zu Dir selber. Du hast das so WUNDERVOLL ge und beschrieben, ja, lernen wir wieder staunen, über das was JETZT ist – wie die Kinder UND alles ist dann gut, wie es ist! (meine Erfahrung) Zu FREUDE gehört halt der Gegenpol Schmerz – und alles geht vorüber – ist alles menschlich und ich sage Dir von Herzen DANKE DANKE DANKE für Dein Wirken und SEIN! Hab Dich lieb! Möge jeder Sonnenstrahl Dein HERZ erwärmen! ALOHA!

    Herz Licht Monika

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