
Heute lade ich dich ein, dir einen Tag Zeit in der Natur zu nehmen. Das kann eine halbe Stunde sein, eine ganze Stunde, 20 Minuten oder ein Tag. Was braucht es, damit du dich in dieser Jahreszeit wohlfühlst draußen? Was braucht es, damit dir warm genug ist? Wo möchtest du gerne unterwegs sein und was ist möglich?
Nimm dir einfach die Zeit, die dir heute (oder morgen) zur Verfügung steht und mache dich auf deinen Weg. Du kannst einen Pfad wählen, den du noch nicht kennst oder deine gewohnte Spaziergehrunde gehen. Schau einmal, ob dir auf ihr etwas auffällt, was du noch nicht kennst.
Es geht um Neu-Entdecktes und entspanntes Sein. Manchmal kann es ein Baum oder die Deko in einem Garten sein, die wir neu entdecken. Ein blühender Zaubernuss-Strauch im Winter, ein Hauch Tau oder Schnee oder etwas ganz anderes. Nimm wahr, was heute in dein Blickfeld kommt.
Verdichte es dann zu einem Haiku: Eine besondere Gedichtform aus Japan, die den Moment einfängt. Du findest weiter unten Beispiele und eine genaue Anleitung. Ich habe sie vor zehn Jahren geschrieben, als ich noch sehr aktiv Kreative Schreibwerkstätten geleitet habe und von der Momentaufnahme des Haiku besonders fasziniert war.
Es geht darum, einen Moment in wenigen Worten zum Ausdruck zu bringen. Auf diese Weise kann das Haiku zu einer Form werden, die Wirklichkeit zu erfassen, dich mit der umgebenden Natur zu verbinden und zugleich Beobachterin zu sein – du siehst, was ist und drückst es in wenigen Worten aus.
So kann auch das Dichten einen Zugang zum Jetzt bieten und einen Raum der Stille in deinem Wahrnehmen und Kopf schaffen. Das Zeichnen oder Fotografieren des Moments kann auch ein Weg sein, wenn das Schreiben nicht so deins ist.
Jetzt aber die Anleitung für Haiku und wenn du magst, teile sie gerne am Ende des Adventskalenders mit den weiteren Teilnehmenden:
Haiku
Eine besondere Form von Kurzgedichten sind die Haiku, japanische Dreizeiler.
Diese Gedichtform ist schon sehr alt und hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter gewandelt und entwickelt. Laut einem Buch über Haiku von 2002 gibt es in Japan über 50 Monatsschriften, die jeden Monat 80.000 neue Haiku veröffentlichen! Dort erfreuen sich nicht nur Literaten und einige Dichter an dieser Form des Dichtens, sondern weite Teile der Bevölkerung.
Was ist nun ein Haiku? Im Grunde geht es darum, die Grundstimmung eines Augenblicks in wenigen Silben einzufangen. Ein Haiku ist in der klassischen Form immer so aufgebaut: 5 + 7 + 5. Insgesamt besteht es aus siebzehn Silben, die sich auf drei Zeilen (mit fünf Silben in der ersten Zeile, sieben in der Zweiten und fünf in der Dritten) verteilen. Haiku thematisieren oft auch die Vergänglichkeit und doch Ewigkeit, die wir in allem finden, und schaffen es mit wenigen Worten etwas in uns zu berühren und zum Klingen (und Nachklingen) zu bringen. Sie beschreiben die Natur, spiegeln sie, so, wie sie ist, ohne dass sich der Mensch selbst (der Geist, das Ego) in den Text einmischt. Haiku haben etwas Zen-Artiges und viele berühmte Haiku-Dichter haben sich jahrelang mit dem Zen-Buddhismus beschäftigt.
Charakteristisch ist auch, dass jedes Haiku ein Wort enthält, dass auf die jeweilige Jahreszeit, dessen Grundstimmung es wiedergibt, hinweist – sei es direkt (Herbststurm, Frühlingswind) oder indirekt (Pflaumenblüte, Kiefernzweige). Das Haiku soll den Leser in die Grundstimmung der Jahreszeit versetzen und alle Bilder und Gedankenverbindungen in uns aufleuchten lassen, die wir mit den jeweiligen Worten verbinden. So gewinnt es trotz seiner Knappheit an Tiefe und Fülle.
Einfachheit und Klarheit in der Sprache, Wörter, die sich wie von selbst zusammenfügen und das Beschriebene unmittelbar darstellen – all dies sind Elemente, die ein Haiku ausmachen. Es geht um die Versenkung in den Augenblick, um Achtsamkeit, das einfache Sein und das Wahrnehmen der Dinge, wie sie sind.
„Um Haiku zu schreiben, werde ein drei Fuß großes Kind“, soll der bekannte Haiku-Dichter Bashô einmal gesagt haben.
Hier nun ein paar Beispiele für Haiku – ich bin gespannt darauf, welche Augenblicke du selbst einfängst (Natürlich ist es auch möglich, zur Übung erst einmal von der 5-7-5-Regel abzuweichen, denn es ist wirklich schwer, die passenden Worte genau in der passenden Silbenlänge zu finden – so ging es zumindest mir beim Ausprobieren).
Viel Freude beim Ausprobieren wünsche ich dir!
Zur Tempelglocke
Ist eingekehrt und schläft nun
Der kleine Falter
Der alte Weiher:
Ein Frosch, der grad hineinspringt –
Des Wassers Platschen.
Die Schmetterlinge –
Was sie wohl träumen mögen
Beim Flügelspreizen?
Im dürren Schilfrohr
Entzünden ihre Lichter
Die kleinen Boote.
Zum Weiterlesen: Haiku. Japanische Dreizeiler. Reclam. ISBN 978-3-15-020721-5 (10.- Euro) – aus diesem Buch stammen auch die zitierten Haiku.
